(1) Positionelles Opfer, Einleitung

Am 16. Mai ging es in der Trainingseinheit um das positionelle Opfer. Unter einem positionellen Opfer versteht man die Investition von Material mit der Hoffnung auf langfristige Kompensation. Entgegen dem taktischen Opfer, bei dem konkrete Varianten mit einem unmittelbaren Ziel (Figurengewinn, Schachmatt, ... = Scheinopfer) im Vordergrund stehen, wird beim positionellen Opfer ausschließlich aufgrund strategischer Faktoren Material aufgegeben. Das positionelle Opfer ist Handwerk eines jeden Meisters. Es schafft nämlich nicht nur ein materielles Ungleichgewicht und dadurch Gewinnpotential, sondern lässt oftmals auch sehr interessante und komplexe Stellungen entstehen. Während zur Zeit der ersten Weltmeister fast ausschließlich für eine rasche Entwicklung, Linienöffnung oder direkten Königsangriff Material geopfert wurde, so geht es heutzutage auch viel mehr um Faktoren wie eine gute Figurenkoordination, oder Felder- und Strukturschwächen im gegnerischen Lager. Man sollte sich darüber bewusst werden, dass ein positionelles Opfer, welches man gerne spielen möchte, objektiv betrachtet nicht unbedingt korrekt sein muss: Der Gegner bekommt nämlich nicht die Möglichkeit, die Idee in seiner häuslichen Analyse, mit der Hilfe seines Computers, zu widerlegen, sondern muss seine Entscheidungen allesamt am Brett, unter Wettkampfbedingungen, treffen. Deshalb kann das positionelle Opfer auch als Kampfmethode betrachtet werden: Der Gegner wird durch die Transformation der Stellung sowie die Initiative, die der Angreifer in der Regel erhält, unter Druck gesetzt und vor Probleme gestellt. Wie oft ein Spieler zum "Posi-Opfer" greift beziehungsweise wie viel Material er bereit ist, zu opfern, hängt natürlich von seiner Risikobereitschaft und Kreativität ab. *

(2) Kramnik,Vladimir (2730) - Vaganian,Rafael A (2645) [E12]
Horgen Horgen (10), 31.10.1995
[Timo Holloway]

1.Sf3 Sf6 2.d4 e6 3.c4 b6 4.a3 Lb7 5.Sc3 Se4 6.Sxe4 Lxe4 7.e3 Le7 8.Ld3 d5 9.Lxe4 dxe4 10.Sd2 f5 11.f3 Ld6 12.Da4+! Fein gespielt: dieses Schach erfolgt jetzt, weil ...Dd7 nicht gut spielbar ist. 12...c6 [12...Dd7? 13.Dxd7+ Sxd7 14.fxe4 fxe4 15.Sxe4+/-; 12...Sd7!? 13.0-0 Dh4 14.f4~~] 13.0-0 Dh4 14.f4[] Schwarz provoziert noch einen B, auf ein schwarzes Feld zu ziehen. Er hofft, mit dem besseren Läufer zu verbleiben. [14.g3?? Lxg3 15.hxg3 Dxg3+ 16.Kh1 0-0!-+; 14.h3? Dg3-+] 14...0-0 Schwarz scheint in Ordnung zu stehen, er besitzt einen guten Läufer und auch Weiß hat offensichtlich Schwierigkeiten mit seiner weiteren Entwicklung. Doch Kramniks Idee ist genau auf die Erfordernisse der Position abgestimmt! Er löst das Problem seiner Entwicklung in hervorragender Manier. WEIß AM ZUG!

15.c5! ein positionelles Bauernopfer: Um zu erkennen, wie effektiv dieses Bauernopfer ist, sollte man einfach den Weg der Figuren Lc1 und Sd2 während der nächsten paar Zügen beobachten. 15...bxc5 praktisch forciert. [15...Lc7 16.cxb6 Lxb6+/= ergibt klaren strukturellen Vorteil für Weiß . Der a-Bauer und sein Kollege auf c6 sind isoliert.] 16.Sc4 De7 17.dxc5 Lxc5 18.b4 Ld6 19.Lb2

Welch ein Eindruck: Die soeben noch unterentwickelten Leichtfiguren haben Idealfelder erreicht. Der Springer steht auf c4 praktisch unvertreibbar, und der Läufer kontrolliert, in Verbindung mit den Be3 + Bf4, die gesamte lange Diagonale; das Ganze für das Opfer von nur einem Bauern. 19...Lc7 20.Tfd1 c5 um endlich seinen Springer entwickeln zu können, der zuvor an die Verteidigung des Bc6 gebunden war. 21.bxc5 Dxc5 22.Tac1

Schaut man sich diese Position an, die Kramnik erlangte, wird wohl kein Zweifel mehr an der Korrektheit des positionellen Bauernopfers mehr bestehen. Kramnik gewann nach einigen weiteren Zügen: 22...De7 23.Db5 Lb6 24.a4 [mittels 24.Sxb6 axb6 25.Dxb6 den Bauern zurückzugewinnen, war nicht Kramniks Absicht. Dennoch stünde er auch hier, nicht nur wegen des hervorragenden Lb2, exzellent.] 24...Lc5 25.Ld4 Lxd4 26.Txd4 a6 27.Db6 Ta7 28.Sd6 Td7? Ein grober Fehler, den wir so oft beobachtet haben: Vaganian bricht unter dem Druck zusammen; Kramnik verfügt über eine sehr starke Entgegnung. 29.Tc8! der Sb8 bekommt nun Probleme 29...Txc8 30.Sxc8 Da3 31.Dxe6+ Kf8 32.Dxf5+ Ke8 33.De6+ Kd8 34.Db6+ Ke8 [34...Kxc8? 35.Tc4+] 35.Sd6+ 1-0

(3) Botvinnik,Mikhail - Pomar Salamanca,Arturo [A08]
Varna ol (Men) qual-A Varna (5), 1962
[Timo Holloway]

In diesem Bespiel geht es um ein typisches Mittelspielmotiv, welches häufig in (halb)geschlossenen Eröffungen vorkommt. BAUERNOPFER FÜR DIAGONALÖFFNUNG, FELDRÄUMUNG =INITIATIVE 1.g3 d5 2.Sf3 c5 3.Lg2 Sc6 4.d3 e5 5.0-0 Ld6 6.e4 d4 7.Sbd2 Sge7 8.c4 f6 9.Sh4 Le6 10.f4 exf4 11.gxf4 Dc7

Schwarz scheint die Stellung unter Kontrolle zu haben! Er moechte lang rochieren und anschliessed mit ...g5 sowohl Linien fuer seine Tuerme oeffnen, als auch das Feld e5 fuer seinen S freikaempfen. Doch Botvinniks scharfe Vorgehensweise verhindert die gegnerischen Plaene: 12.e5! [12.Sb3?! dieser Zug deckt zwar den angegriffenen Bauern f4, allerdings steht Schwarz nach 12...0-0-0 13.De2?! g5! exzellent.] 12...fxe5 13.f5!

Eine tolle Idee: Botvinnik opfert einen Bauern und erhaelt dadurch eine Anzahl verschiedener Vorteile: Es werden nicht nur die Diagonalen der beiden Laeufer geoeffnet, sondern auch das Traumfeld e4 fuer den weissen Springer zugaenglich gemacht. Ausserdem wird die Diagonale des Ld6 blockiert. Auch die schwarzen Springer scheinen etwas inaktiv. Unter Beruecksichtigung all dieser Faktoren ist dieses Bauernopfer aeusserst angebracht. 13...Lf7 [13...Ld7? 14.Dh5++-] 14.Se4 0-0-0 15.Dg4 Kb8 16.Dxg7 Lh5 17.Tf2?! [17.Sxd6! dieser Zug wäre deutlich stärker gewesen: 17...Dxd6 18.f6 Thg8 (18...Sg6 19.Sf5+-) 19.Dh6 Le2 20.Lg5 Lxf1 21.Txf1+/- ein weiteres positionelles Opfer...] Nun entstehen starke Verwicklungen mit dem besseren Ende für den Anziehenden: 17...h6 18.Ld2 Tdg8 19.Df6 Sc8 20.Sg6 Lxg6 21.fxg6 Le7 22.Df7 Sd8 23.Df5 Lh4 24.Tf3 Se7 25.Dh3 Sxg6 26.Sf6 Lxf6 27.Txf6 De7 28.Taf1

28...Sf4? ein grober Fehler, der den Untergang bedeutet. [Vielleicht besitzt Schwarz nach 28...h5 29.Kh1 Sf8+/= noch Überlebenschancen, allerdings steht Weiß äußerst aktiv. Er besitzt das hervorragend postierte Läuferpaar sowie auch sehr agile Schwerfiguren. Diese Stellung kann als Folge des Bauernopfers im 12. Zug angesehen werden. Die Initiative von Weiß ist nicht zu übersehen. Meine Meinung ist, dass so eine Stellung in der praktischen Partie nicht nur leichter für Weiß zu spielen ist, sondern ihm auch mehr Gewinnpotential bietet. Ich denke, die Verteidigung ist am Brett, unter dem Druck der Uhr, fast unmöglich. Man vergleiche die Figurenaktivität der beiden Seiten...] 29.T6xf4 exf4 30.Lxf4+ Man könnte auf die Idee kommen, zu behaupten, dass Pomar erstaunlicherweise einen groben Fehler beging und Botvinnik nur deshalb die Partie gewinnen konnte. Dem möchte ich sofort widersprechen: WEIL Botvinnik den Bauern geopfert hat, dadurch Initiative erlangte, den Gegner in die Defensive drängte und vor Probleme stellte, unterlief seinem Gegner der Fehler. 1-0

(4) Martin-Gonzalez - Dolmatov
Barcelona, 1983
[Timo Holloway]

QUALITÄTSOPFER IN DER VERTEIDIGUNG Diese Partie soll verdeutlichen, dass das positionelle Opfer Anwendung in allen Bereichen der Partie finden kann. So ist es sehr häufig in Eröffnungsvarianten vertreten (z.B. das Qulitätsopfer auf a1 in der Grünfeldindischen Verteidigung: 1. d4 Sf6 2. c4 g6 3. Sc3 d5 4. cxd5 Sxd5 5. e4 Sxc3 6. bxc3 c5 7. Lc4 Lg7 8. Se2 O-O 9. O-O cxd4 10. cxd4 Sc6 11. Le3 Lg4 12. f3 Sa5 13. Ld3 Le6 14. d5 Lxa1 15. Dxa1 f6 mit sehr scharfer Stellung; oder das typische Motiv TxSc3 in der Sizilinischen bzw. TxSf3 in der Französischen Verteidigung ), aber auch manchmal im Endspiel, sowie natürlich, am häufigsten, im Mittelspiel. In dieser Partie wird jedoch verdeutlicht, dass das "Posi-Opfer" nicht nur ein probates Mittel im Angriff, sondern auch in der Verteidigung ist: 1...Ld7!

[Mit der Idee, das gegnerische Spiel am Königsflügel mittels eines Qualitätsopfers zu blockieren. Dieser Plan ist in dieser Stellung wahrscheinlich am stärksten, denn nach 1...b6?! 2.Lg5! De8 (2...Dd7!? 3.gxf5 Dc6 4.c4!+/-) 3.Dxe8 Txe8 4.gxf5 exf5 5.Lg2 mit der Absicht, mit 6.c4 fortzusetzen, steht Weiß deutlich besser.] 2.gxf5 Txf5 3.Dh3 Le8! eine tolle Idee. Schwarz möchte den Tf5 gegen den Ld3 opfern, um dem gegnerischen Angriff den Stachel zu nehmen: 4.Ld3 Lg6 5.Tg1 Df8 6.Lxf5 der Tf5 hat den Angriff blockiert, sodass er früher oder später geschlagen werden musste. Wir erkennen durch dieses Qualitätsopfer auch psychologische Vorteile eines positionellen Opfers: Weiß musste, entgegen seiner Erfahrung, entgegen seiner Vorbereitung, entgegen seiner Erwartung, den weißfeldrigen Läufer aufgeben. Das heißt, er muss sich mit einer komplett neuen Stellung auseinandersetzen. Diese Stellungstrans-formation begünstigt fast ausschließlich die Seite, die Material opfert. 6...Lxf5

Schwarz besitzt gute Kompensation fuer die Qualitaet, sein Laeufer steht sehr aktiv. Das materielle Defizit faellt praktisch nicht ins Gewicht. 7.Df3 [7.Dh4 A) 7...Kh8?? : Nun folgt ein lehrreicher Trick: 8.Txg7! Dxg7 9.Lh6 Dg8 (9...Dg6 10.Dd8+ Dg8 11.Df6+) 10.Df6+ Dg7 11.Dxg7#; B) 7...Sc6?! 8.Df6! Sa5 9.h4 Dxf6 10.exf6 g6~~; C) 7...Sd7!© ] 7...Sc6 8.De2 Kh8 9.a4 wichtig für die Korrektheit des Opfers ist auch die geschwächte weiße Bauernstruktur am Damenflügel: Auf dem Feld c4 wird der schwarze Springer unvertreibbar stehen. 9...Df7 10.a5 b6 11.axb6 cxb6 12.Tg3 Sa5 13.f3 Sc4

Die beiden Leichtfiguren von Schwarz stehen sehr dominant, sie sind nicht schwaecher als die weissen Tuerme. 14.Kf2 a5 nachdem Dolmatov eine gewisse Kontrolle über die Stellung erlangt hat, macht er sich nun daran, mittels seines Freibauern um Vorteil zu kämpfen. Nach wie vor besitzt Weiß eine Qualität mehr, die jedoch nicht zum Tragen kommt. 15.Kg1 a4 16.La3 Lg6 17.Kf2 Df5 18.Ta2 der Turm steht hier wirklich äußerst passiv. 18...Ta7 19.Lc1 h6 20.Kg1 a3 21.Tg2 Lh5 22.Tg3 Df8 23.Th3 Lg6 24.Tg3 Lf5 Der Nachziehende gibt sich keineswegs mit einem Remis zufrieden. 25.Dg2 b5 26.Df2 b4 27.De1 Lxc2 28.cxb4 [28.Txc2 Df5 29.Ta2 Db1-+] 28...Lb1 29.Ta1 a2 30.f4 De8 31.De2 Da4 32.De1 Tb7 33.Ld2 Sxd2 34.Dxd2 Txb4 35.Td3 Lxd3 36.Dxd3 Tb3! Durch das "Qualle-Opfer" konnte Dolmatov den wichtigen Ld3 beseitigen. Dies ermöglichte ihm, eine Art Blockadestellung zu errichten, in der seine Minusqualität prakitsch keine Bedeutung. (Quelle: "Secrets of Modern Chess Strategy" + "Megabase ´06") 1-0

(5) Euwe,Max - Keres,Paul [E19]
NED m 3940 NED (9), 1940
[Timo Holloway]

Das letzte Beispiel, eine Aufgabe mit einem sehr schönen Opfer, bildet den Abschluss dieser kurzen Zusammenfassung: 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.g3 Lb7 5.Lg2 Le7 6.0-0 0-0 7.Sc3 Se4 8.Dc2 Sxc3 9.Dxc3 d6 10.Dc2 f5 11.Se1 Dc8 12.e4 Sd7 13.d5 fxe4 14.Dxe4 Sc5 15.De2 Lf6 16.Lh3 Te8 17.Le3 Dd8 18.Lxc5 exd5 19.Le6+ Kh8 20.Td1 dxc5 21.Sg2 d4 22.f4 Schwarz hat einen Bauern mehr. Wie realisiert er am besten seinen Vorteil? AUFGABE 1: SCHWARZ AM ZUG!

22...d3!! [22...Txe6! ist auch interessant, weil die weiße Königsstellung sehr geschwächt und der Lb7 exzellent postiert ist. Keres zeigt dieselbe Idee allerdings in Perfektion...:] 23.Txd3 Dxd3! Ein sehr instruktives Damenopfer. Schwarz wird für die Dame und den Bauern zwar nur einen Läufer und einen Turm bekommen, die geschwächte weiße Königsstellung sowie das schwarze Läuferpaar rechtfertigen das Opfer jedoch voll und ganz. 24.Dxd3 Ld4+ 25.Tf2 [25.Kh1? Txe6 mit der Idee ...Tae8, gefolgt von ...Te2. Weiß kann sich überhaupt nicht rühren.] 25...Txe6

26.Kf1 Tae8 Keres möchte den bärenstarken Ld4 offensichtlich nicht gegen den passiven Tf2 tauschen. 27.f5 [27.Td2 Le4 28.Db3 Lf5 29.Dd1 Lh3-+] 27...Te5 28.f6 gxf6 29.Td2 Lc8! ein sehr schöner Zug: Obwohl der Lb7 scheinbar exzellent steht, wechselt er die Diagonale... 30.Sf4 Te3 31.Db1 Tf3+ 32.Kg2 Abschlussfrage: Wie gewann Keres nun die Partie?

32...Txf4! 33.gxf4 Tg8+ 34.Kf3 Lg4+ 0-1



Timo Holloway


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